Ist die Quantenrealität ein reines Zahlenspiel? Neue Forschung zeigt: Komplexe Zahlen sind unverzichtbar, um das Universum zu verstehen
Seit den Anfängen der Quantenmechanik wird darüber diskutiert, ob komplexe Zahlen wirklich nötig sind, um die Quantenrealität zu verstehen und vorherzusagen – oder ob sie lediglich ein praktisches mathematisches Hilfsmittel darstellen. Eine aktuelle Veröffentlichung in der Physical Review Letters von Nicolas Gisin, Physikprofessor an der Constructor University, liefert nun den bisher eindeutigsten Beweis: Mit reellen Zahlen allein lässt sich die Gesamtheit des Universums nicht erklären.
In seinem Artikel „Partial independence suffices to rule out Real Quantum Theory experimentally“ knüpft Prof. Gisin an frühere Arbeiten an und untersucht die Rolle komplexer Zahlen beim Erklären und Vorhersagen quantenmechanischer Korrelationen. Bereits 2009 hatte Gisin mit anderen Forschenden in einem ebenfalls in PRS erschienenen Beitrag (€) anhand eines Simulationsmodells gezeigt, dass sich Quantenkorrelationen zwar mit ausschließlich reellen Zahlen (der sogenannten „Reellen Quantentheorie“) reproduzieren lassen, wenn die Quellen maximal miteinander verschränkt waren. In einem wegweisenden Folgeexperiment, das 2021 in Nature erschien, zeigte das Team jedoch, dass die Reelle Quantentheorie scheiterte, sobald die Netzwerkquellen unabhängig und nicht miteinander verbunden waren.
Was steckt in einer Zahl?
Der Kern der Ergebnisse erschließt sich, wenn man den Unterschied zwischen reellen und komplexen Zahlen betrachtet. Reelle Zahlen sind lineare Größen, wie sie uns im Alltag begegnen. Die in der Quantenmechanik verwendeten komplexen Zahlen haben hingegen einen reellen und einen „imaginären“ Part (i = √-1). Damit eröffnen komplexe Zahlen völlig neue Dimensionen der Beschreibung. Während reelle Zahlen entlang einer Linie operieren, spannen komplexe Zahlen eine Ebene auf. Bildlich gesprochen: Reelle Zahlen sind wie eine Flöte, die einzelne, monophone Töne entlang einer Tonleiter spielt. Komplexe Zahlen hingegen ermöglichen eine polyphone Welt, wie ein Orchester mit vielschichtigen Harmonien, Akkorden und Dynamiken.
Komplexe Zahlen sind seit jeher grundlegend für die Quantentheorie. Doch lange blieb die Frage, ob sie tatsächlich unverzichtbar sind oder eines Tages doch durch ein einfacheres Modell mit nur reellen Zahlen ersetzt werden könnten, unbeantwortet. Prof. Gisins aktuelle Arbeit liefert nun den bislang schlüssigsten Nachweis: Das Universum ist tatsächlich eine „Symphonie der Komplexität“ und komplexe Zahlen sind notwendig, um es zu verstehen.
Wo reelle Zahlen an ihre Grenzen stoßen
In ihrer neuen Studie haben Prof. Gisin und Forscher:innen von der Universität Genf und dem Institut Polytechnique de Paris nun die Annahme vollständiger Unabhängigkeit gelockert, um zu prüfen, ob die Reelle Quantentheorie quantenmechanische Ergebnisse auch dann reproduzieren kann, wenn Netzwerkquellen nur teilweise verschränkt sind. Das Ergebnis ist eindeutig: Selbst wenn Quellen eine gewisse Verschränkung oder Korrelation haben, lässt sich die Quantenrealität nicht allein mit reellen Zahlen nachbilden. Komplexe Zahlen sind unerlässlich.
„Mit dieser Studie wollten wir endlich die Frage beantworten, welche Quantenkorrelationen sich allein mit reellwertigen Hilberträumen reproduzieren lassen, wenn man Epsilon‑Unabhängigkeit annimmt“, sagt Prof. Gisin. Anders formuliert: Lassen sich Quantenresultate zuverlässig nur mit reellen Zahlen reproduzieren, wenn die Quellen weniger als zu 100 % korreliert sind? „Was wir im Netzwerkszenario sehen: Die Korrelationen, die die Quantentheorie über komplexe Zahlen vorhersagt, lassen sich nicht allein mit reellen Zahlen wiedergeben, auch dann nicht, wenn die Quellen teilweise miteinander verbunden sind. Das zeigt: Komplexe Hilberträume sind nicht nur ein theoretisches Werkzeug, sondern physikalisch notwendig, um Quantenrealität zu verstehen.“
Die Ergebnisse bestätigen grundlegende theoretische Konzepte, auf denen die Quantenmechanik seit ihren Anfängen aufbaut. „Sogar Schrödinger, einer der Väter der Quantenmechanik, fragte sich, ob komplexe Zahlen wirklich notwendig sind oder nur ein eine Art Platzhalter, der später wegfällt“, so Prof. Gisin. „Es hat 100 Jahre gedauert - aber wir haben diese Frage nicht nur geklärt, sondern gezeigt, dass komplexe Zahlen absolut notwendig sind.“
Welche unmittelbaren Auswirkungen diese Forschung auf Technologie oder Industrie haben wird, ist noch nicht unmittelbar absehbar. Prof. Gisin zeigt sich jedoch zuversichtlich, dass das Zusammenspiel von Theorie und Praxis weiterhin neue Einsichten und Entdeckungen in der Quantenmechanik hervorbringen wird: „Physikerinnen und Physiker haben eine grenzenlose Vorstellungskraft“, erklärt er. „Auch wenn dies innerhalb der Standarddynamik in Hilberträumen eine abschließende Antwort bietet, gibt es immer Wege, die Spielregeln zu verändern.“
„Oft stellt man sich vor, dass neue wissenschaftliche Theorien ihren Weg immer nur in eine Richtung nehmen, nämlich von der Forschung ins echte Leben. Aber ähnlich wie bei Quantenkorrelationen ist das Zusammenspiel vielschichtiger: Theorie und Praxis beeinflussen sich gegenseitig. Grundlegende Erkenntnisse führen zu neuen Technologien, und diese wiederum eröffnen der Wissenschaft ganz neue Fragen und Möglichkeiten.“
Über Prof. Nicolas Gisin
Prof. Nicolas Gisin ist ein vielfach ausgezeichneter Professor für Quanteninformation und ‑kommunikation an der Constructor University und der Universität Genf, sowie Mitglied des Strategic Advisory Board der Constructor Group.
Seine Arbeiten in experimenteller und theoretischer Physik haben wesentlich zu experimenteller Quantenkryptografie, langstreckiger Quantenkommunikation in Standard‑Telekomglasfasern und den Grundlagen der Quantenmechanik beigetragen. Er ist zudem Mitgründer von ID Quantique, einem der weltweit führenden Unternehmen für Quanteninformations- und -kommunikationstechnologien.
Prof. Gisin wurde mit mehreren bedeutenden Preisen in Wissenschaft und Physik ausgezeichnet, darunter etwa:
- Micius Quantum Prize (2023), verliehen von der Micius Foundation in China. Dabei handelt es sich um den höchstdotierten chinesischen Preis auf dem Gebiet der Quantenmechanik.
- Schweizer Wissenschaftspreis Marcel Benoist (2014) - dabei handelt es sich um den höchsten Wissenschaftspreis in der Schweiz. Er wird einmal pro Jahr an eine Einzelperson vergeben.
- International Quantum Communication Award, QCMC’14 (2014)
- Volta-Medaille der Universität Pavia, Italien (2015)
- ERC Advanced Grant zu “Quantum Correlations” (2008)
- Volta Medal from the University of Pavia, Italy (2015)
- ERC Advanced Grant on “Quantum Correlations” (2008)
- John Stewart Bell Prize for Research on Fundamental Issues in Quantum Mechanics and their Applications (2009)