Studie belegt: Gesellschaftlicher Zusammenhalt in Deutschland bröckelt, aber Vielfalt bleibt willkommen

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Prof. Dr. Klaus Boehnke and his team researched social cohesion in Germany. (source: Constructor University)

Zum dritten Mal nach 2017 und 2020 hat ein Team an der Constructor University um Prof. Dr. Klaus Boehnke für die Bertelsmann Stiftung ermittelt, wie es um das gesellschaftliche Miteinander in Deutschland bestellt ist. Vor allem die Coronapandemie scheint den Zusammenhalt beeinträchtigt zu haben, sagt Boehnke, Professor für Sozialwissenschaftliche Methodenlehre, im Interview.

Herr Prof. Boehnke, Sie untersuchen seit mehr als einem Jahrzehnt den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Welche Veränderungen haben Sie festgestellt?

Boehnke: Krisen wie der Ukraine-Krieg, die Inflation, aber vor allem die Pandemie haben ihre Spuren hinterlassen. Der Gesamtindex der Zusammenhaltswerte* ist um 9 Punkte gegenüber 2020 gesunken. Das ist erheblich. Wie eine zeitgleich ebenfalls von meinem Team durchgeführte Fortschreibung eines europaweiten Vergleichs ergeben hat, rangiert Deutschland aber weiter im obersten Viertel aller europäischen Länder. Insgesamt ist der Zusammenhalt mit 52 Punkten auf einer Skala von 0 bis 100 noch solide und zeigt, wie resilient unsere Gesellschaft ist.

In der öffentlichen Wahrnehmung herrscht der Eindruck zunehmender Polarisierung und Spaltung. Spiegeln ihre Daten dies wider?

Boehnke: Unsere Daten zeigen eine große Bandbreite an Meinungen in der Bevölkerung, die zeigen, wie komplex unsere Gesellschaft ist. Da ist die Gruppe der Entfremdeten mit 13 Prozent der Befragten, die den Zusammenhalt überwiegend als sehr gering erlebt. Sie fühlt sich abgehängt, etwa 35 Prozent der Menschen in dieser Gruppe würden die AfD wählen. Ihnen gegenüber stehen mit 28 Prozent der Befragten die Eingebundenen, die den Zusammenhalt durchaus als intakt erleben. Sie sind zufrieden mit der Demokratie und haben Vertrauen in die Politik und Medien. Zwischen ihnen befinden sich die Enttäuschten mit 27 Prozent und die Teileingebundenen mit 32 Prozent. Diese Vielfalt der Perspektiven zeigt, wie wichtig ein nuancierter Blick auf unsere Gesellschaft ist.

Welche Ergebnisse der Studie haben sie überrascht?

Boehnke: Eine Dimension von Zusammenhalt im Bereich der sozialen Beziehungen ist die Akzeptanz von Diversität. Die Offenheit für Vielfalt ist in Deutschland zwar durchaus rückläufig. Dennoch – und das ist mir wichtig – ist Offenheit gegenüber Vielfalt immer noch die Dimension mit den höchsten Werten: Vielfalt bleibt willkommen.

Ihre Studie nimmt auch die Regionen unter die Lupe. Je besser dort die wirtschaftliche Situation, je geringer die ökonomische Ungleichheit, desto ausgeprägter ist der Zusammenhalt. Warum ist das so – und sollte es nicht umgekehrt sein?

Boehnke: Das werde ich oft in den ostdeutschen Bundesländern gefragt, in denen der Zusammenhalt früher vermeintlich ausgeprägt war und heute geringer ist als in westdeutschen Regionen. Meine Erklärung dafür ist: Wo es weniger zu verteilen gibt, ist auch das Miteinander schwieriger – und umgekehrt.

Und wie steht’s um das Miteinander in Bremen?

Boehnke: Auch Bremen war in die Studie einbezogen, aber da die Zahl der Interviewten zur Zahl der Einwohner in einem Bundesland proportional ist, liegen aus Bremen nicht genug Interviews vor um hierzu verlässliche Aussagen zu erlauben. Deshalb sind Einzelergebnisse für Bremen im Bericht auch nicht ausgewiesen. Wirft man dennoch einen Blick auf die aus Bremen vorliegenden Daten, so ist für Bremen ein deutlicherer Rückgang des Zusammenhalts als in anderen Bundesländern zu konstatieren.

Gesellschaftlicher Zusammenhalt hilft bei der Bewältigung von Krisen und Transformationen. Wie kann er gefördert werden?

Boehnke: Zum Beispiel durch die Unterstützung sozialer Netze, durch die Ermöglichung von Teilhabe, gerade auf lokaler Ebene, etwa durch Nachbarschaftsinitiativen. Durch Corona sind viele tendenziell vereinsamt. Generell kann der Abbau von Unterschieden in Lebensqualität und Wirtschaftskraft zu mehr Zusammenhalt beitragen.

*Der gesellschaftliche Zusammenhalt setzt sich aus neun Einzeldimensionen zusammen, die in drei Bereiche gruppiert wurden: soziale Beziehungen, Verbundenheit mit dem Gemeinwesen und Gemeinwohlorientierung. Die Befragungen von 5004 Personen für die Studie fanden bundesweit im Oktober 2023 statt.

Link zu Studie:
Gesellschaftlicher Zusammenhalt in Deutschland 2023. Perspektiven auf das Miteinander in herausfordernden Zeiten.

Herausgegeben von der Bertelsmann Stiftung. Autoren: Prof. Dr. Klaus Boehnke, Dr. Georgi Dragolov, Dr. Regina Arant (alle Constructor University Bremen), Dr. Kai Unzicker (Bertelsmann Stiftung)

Wissenschaftlicher Kontakt: 
Prof. Klaus Boehnke | Professor für Sozialwissenschaftliche Methodenlehre kboehnke@constructor.university | Tel.: +49 421 200-3401

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